Anfang 2025 wurde im Klinikum Wetzlar eine an SPS erkrankte Patientin mit gynäkologischen Senkungsbeschwerden mittels Schlüssellochchirurgie operiert. Diese Operation stellte die Anästhesisten vor besondere Herausforderungen, da gesicherte Informationen über die anästhesiologische Versorgung von SPS-Patienten begrenzt sind.

„Durch die Seltenheit der Erkrankung gibt es keine standardisierten Empfehlungen für bestimmte anästhesiologische Verfahren. Genau für diese Fälle gibt es das Projekt OrphanAnesthesia“, erklärt Professor Dr. Jörg Engel, Chefarzt der Anästhesiologie und Intensivmedizin am Klinikum Wetzlar. Dahinter verbirgt sich eine Datenbank mit Handlungsempfehlungen für Anästhesisten bei mehr als 160 seltene Erkrankungen – von A wie Ahornsirupkrankheit bis Z wie zystischen Fibrose. „Das Besondere: Die Informationen stammen aus wissenschaftlichen Publikationen sowie den Erfahrungen internationaler Experten und werden einem standardisierten gutachterlichen Prozess unterzogen. Fachleute aus der Anästhesie, darunter auch Experten aus Wetzlar, sowie Spezialisten der jeweiligen Grunderkrankungen sind an der Entwicklung der Leitlinien beteiligt“, so der Chefarzt.

So beschreiben Fallberichte für Personen mit SPS ein signifikantes Absenken des Blutdrucks (Hypotonie) im Rahmen von Vollnarkosen, die möglicherweise durch die Medikation von Muskelrelaxantien und gasförmigen Narkosemittel hervorgerufen wird. Dies macht in einigen Fällen eine so genannte Nachbeatmung erforderlich. Das heißt, die künstliche Beatmung eines Patienten wird nach dem eigentlichen operativen Eingriff fortgesetzt, da dieser noch nicht in der Lage ist, selbstständig und ausreichend zu atmen. Einige Fallberichte legen nahe, dass eine totale intravenöse Anästhesie (TIVA) das Risiko für eine Hypotonie reduziert und somit eine geeignetere Option sein kann. 

Auch regionalanästhesiologische Verfahren bieten eine effektive und tiefe Schmerzunempfindlichkeit ohne den Einsatz von Muskelrelaxantien und gasförmigen Narkosemittel. Die Entscheidung für eine Vollnarkose oder ein regionalanästhesiologisches Verfahren erfordert daher eine ausführliche Abwägung der Art des operativen Eingriffs, der klinischen Ausprägung der Erkrankung, der Patientenpräferenz und der Erfahrung des Anästhesisten. „Im beschriebenen Eingriff haben wir eine so genannte balancierte Anästhesie angewendet. Das heißt, es wurden verschiedene Anästhetika sowohl inhalativ als auch intravenös verabreicht“, erklärt Professor Jörg Engel. „Die Hirnströme und das Ausmaß der Relaxierung wurden hierbei separat überwacht, um die Narkose individuell steuern zu können.“ 

In der EU gelten Krankheiten als selten, wenn nicht mehr als einer von 2.000 Menschen betroffen ist. Trotzdem leiden insgesamt etwa 30 Millionen Menschen in der EU an einer seltenen Krankheit. Rund 6.000 der etwa 30.000 bekannten Krankheiten fallen in diese Kategorie, Tendenz steigend.

Durch die fortschreitende Diagnostik und verbesserte medizinische Versorgung nehmen Anästhesisten immer häufiger Eingriffe bei Personen vor, die an seltenen Krankheiten leiden. Hier bietet „OrphanAnesthesia" eine zentrale Plattform, die bestehendes Wissen bündelt und für eine sichere Patientenversorgung zugänglich macht. „Eigentlich ist der 29. Februar der Tag der Seltenen Erkrankungen – ein Datum, das ebenso rar ist wie die Erkrankungen selbst. Mit der Vorstellung des Projekts in diesem Februar, möchten wir unser Engagement für die Verbesserung der medizinischen Versorgung von Patienten mit seltenen Erkrankungen unterstreichen. Unser Ziel ist es, medizinisches Fachpersonal weltweit in der Behandlung seltener Erkrankungen zu unterstützen und somit die Patientensicherheit zu erhöhen“, verdeutlicht Professor Engel. 

 

Ein Mitarbeiter im OP bei der Dokumentation.
Professor Dr. Engel, Chefarzt der Anästhesiologie und Intensivmedizin am Klinikum Wetzlar, während einer Operation.