Im Interview erzählen sie, was einen guten Seelsorger ausmacht, wie man im Gespräch mit Kranken die richtigen Worte findet und wieso das Kirschenwäldchen hinter dem Klinikum hilfreich sein kann.
 

Peter Hermann, Sie haben 32 Jahre im Klinikum Wetzlar gearbeitet. Hans-Dieter Dörr, bei Ihnen waren es fast elf Jahre. Können Sie diese Zeit in drei Worten beschreiben?

Peter Hermann: Fantastisch, spannend, schön.

Hans-Dieter Dörr: Spannend, erfüllend, immer gut für Überraschungen.

Sie haben beide Ihr Berufsleben als Seelsorger verbracht, teils in der Klinik, teils in der Gemeinde. Was macht einen guten Seelsorger aus?

Dörr: Zuhören können. Empathie. Einfühlsam auf die Situation eingehen, wertschätzend mit den Betroffenen umgehen.

Hermann: Ich möchte ergänzen: Nicht werten.

Also auch, sich selbst und die eigene Meinung ein Stück weit zurückhalten?

Hermann: Wenn ich gefragt werde, gebe ich schon gern Auskunft. Der Patient ist im Mittelpunkt und wir dürfen unterstützend begleiten.

Hat man diese Eigenschaften von Natur aus oder erwirbt man sie im Laufe der Zeit?

Dörr: Ich glaube es ist beides. Ein Stück Begabung ist schon wichtig, zumindest empfinde ich es für mich so. Aber es gehört auch ein Stück Professionalität dazu und die lernt man zum einen durch entsprechende Fortbildungen, zum anderen gewinnt man im Laufe der Zeit eine gewisse Reife. Selbstreflektion ist besonders wichtig, dafür kann zum Beispiel eine Supervision hilfreich sein.

Hermann: Die richtige Haltung ist die Grundvoraussetzung. Eine seelsorgliche Haltung muss schon ein bisschen in die Wiege gelegt sein.

Warum haben Sie sich für die Klinikseelsorge entschieden?

Hermann: Ich wollte nicht ewig in Verwaltungstätigkeiten hängen bleiben, die in einer Gemeinde unweigerlich dazugehören. Diese Aufgaben habe ich hier in der Klinikseelsorge größtenteils hinter mir lassen können.

Dörr: Ich war über 21 Jahre im Gemeindepfarramt und habe auch seelsorglich gearbeitet, besonders bei Taufen, Trauungen, Bestattungen und Beerdigungen. Ich habe früh gemerkt, dass ich dafür durchaus begabt bin. Im Laufe der Zeit wurde in meinem Pfarramt die Arbeitsverdichtung immer größer. Für Seelsorge war nicht viel Zeit. Zum Glück habe ich die Chance erhalten, mich für die Seelsorge im Klinikum Wetzlar zu bewerben. So sind die letzten zehn Jahre eine sehr erfüllte Zeit mit viel Freiheit für mich gewesen.

Was macht die Klinikseelsorge für Sie so interessant?

Hermann: Im Krankenhaus sind nicht nur Kranke, sondern auch Angehörige und Beschäftigte. Diese Mischung macht es für mich aus.

Dörr: Hier begegne ich Menschen. Zuhörend dabei zu sein und möglicherweise auch hier und da, wenn ich nach meiner Meinung gefragt werde, einen Anstoß oder einen Impuls geben zu können, ist einfach eine gute Erfahrung.

Können Sie einen typischen Arbeitstag beschreiben?

Dörr: Unser Arbeitstag besteht hauptsächlich darin, die Patienten zu besuchen, die bei der Aufnahme einen Seelsorgewunsch geäußert haben oder wir besuchen auch schwerkranke Patienten, wenn es die Angehörigen wünschen. Wir haben die Kliniken schwerpunktmäßig aufgeteilt. Für den Vordergrunddienst hat jeder seine Klinik, die er seelsorglich versorgt. Meine Schwerpunktkliniken sind die Gynäkologie und die Neurologie mit der Stroke Unit.

Hermann: Bei mir ist es die Hämatologie/Onkologie mit der Palliativstation und der Ambulanz des onkologischen Zentrums und die Intensivstation. Nach Bedarf besuchen wir natürlich auch die anderen Stationen im Haus. Wenn ein Notruf kommt, hat das natürlich Vorrang. Hinzu kommt bei uns beiden die Rufbereitschaft abends, nachts und am Wochenende.

In welchen Fällen werden Sie gerufen?

Dörr: Wenn jemand im Sterben liegt. Oft werden wir auf der Intensivstation gebraucht, wenn die Situation kritisch ist. Dann kümmern wir uns um die Angehörigen, auch damit das Personal in Ruhe arbeiten kann.

Hermann: Es gibt Sterbebegleitung, es gibt die Segnung von Gestorbenen und den tröstenden Segen für die Zurückbleibenden. Zwei Fünftel aller Rufe gelten nicht den Sterbenden, vielmehr geht es um die Begleitung der Angehörigen in einer Krisensituation.

Welche Rolle spielen Sie als Ansprechpartner für die Mitarbeiter?

Hermann: Wenn Mitarbeiter bedrückt sind, sind sie froh, wenn Hans-Dieter oder ich einfach mal zuhören. Das ist auch eine Funktion von Klinikseelsorge.

Wie haben Sie die Zeit der Pandemie als Klinikseelsorger erlebt?

Dörr: Da haben wir besonders gemerkt, wie wichtig wir sind. Gerade in den Bereichen mit COVID-Patienten war es wichtig, ein offenes Ohr zu haben und immer wieder wertschätzend zu unterstützen. Wir haben die Schutzkleidung wie die anderen angezogen, wenn wir dort Besuche gemacht haben. In den wärmeren Monaten habe ich nur dagesessen und zugehört und mir lief schon der Schweiß. Da habe ich gemerkt, wie einen das körperlich angehen kann.

Wie wichtig sind die Unterschiede zwischen evangelischer und katholischer Konfession in der Praxis?

Dörr: Wenn jemand eine katholische Seelsorge wünscht, kommt der katholische Kollege, der das Sakrament verwalten darf. Gerade bei den Katholiken spielen bestimmte Rituale und Traditionen eine Rolle, das möchte ich als evangelischer Pfarrer ihnen nicht wegnehmen.

Hermann: Früher haben sich die Angehörigen manchmal noch sehr tradierte Rituale gewünscht, damit der Sterbende in den Himmel kam. Er selbst hat davon zum Teil gar nichts mehr mitbekommen. Das hat in den drei Jahrzehnten meiner Tätigkeit erfreulicherweise abgenommen.

Wie finden Sie die richtigen Worte, wenn jemand verzweifelt ist?

Hermann: Manchmal hilft es, vorsichtig die Frage zu stellen: Was gibt es denn sonst noch im Leben? Also den Blick auf positive Dinge richten.

Dörr: Zu schauen, was Licht in eine schwierige Situation bringen kann. Welche Erfahrungen hat der Betroffene, was hat ihm in früheren Krisen geholfen?

Was tun Sie, wenn Patienten sich nicht selbst äußern können?

Hermann: Auch die Haltung und die Geste zählen. Bei beatmeten Patienten beispielsweise wissen wir grundsätzlich nicht, wie sie es gerne hätten. Das ist und bleibt ein sensibler Punkt. Ich erkläre dann, wer ich bin und was ich mache: Ich bin Peter Hermann, Klinikseelsorger, ich mache heute die Besuche auf der Intensivstation, ich stehe im Moment an Ihrem Bett und ich halte während ich bete Ihre Hand. Es gibt aber auch Fälle, in denen ich auf einen solchen Kontakt verzichte – wenn ich beispielsweise von den Angehörigen weiß, dass Berührungen oder ein christliches Gebet nicht gewünscht sind.

Wie nehmen Sie den Patienten die Angst vor dem Sterben?

Hermann: Zu einer Patientin, von der ich wusste, dass sie gläubig ist, sagte ich den Satz: Sie können nicht tiefer fallen als in die Hand eines liebenden Gottes. Die Frau hat sich noch Jahre später daran erinnert. Ich erlebe es als Geschenk, wenn mir so ein Satz herausrutscht und gut ankommt.

Dörr: Das wichtigste ist häufig, deutlich zu machen: Du bist auch in der Situation getragen und angenommen. Ich erinnere mich an eine Frau, die ich in der Klinik sehr lange begleitet habe und die dann irgendwann gesagt hat: Ich bin jetzt fertig, ich mache keine Chemotherapie mehr, das trägt nicht mehr zu meiner Lebensqualität bei. Sie ist dann ins Hospiz gegangen, wo ich sie weiter begleitet habe.

Hermann: Manche Menschen fragen: Darf ich als Christin oder Christ überhaupt Angst und Zweifel haben? Ich sage: Natürlich darfst du das!

Ist es für gläubige Menschen leichter, mit schwierigen Situationen und Krisen umzugehen?

Hermann: Viele Menschen sagen zu mir: Du bist in der Klinikseelsorge, jetzt musst du doch mal sagen, dass das Glauben sich lohnt. Aber das kann ich so nicht bestätigen.

Dörr: Es gibt Untersuchungen darüber, dass der Glaube und das Beten in schwierigen Lebenslagen helfen können. Aber das ist keine Gesetzmäßigkeit.

Hermann: Natürlich kann ein gesunder Glaube auch über viele Krisen hinweghelfen. Aber ich habe in den Jahrzehnten auch erlebt, dass nicht jeder Glaube ein gesunder Glaube ist.

Wie äußert sich ein solcher ungesunder Glaube?

Hermann: Höllenangst ist ein Beispiel für einen Glauben, der lähmend und bedrohlich ist. Oder wenn ich nicht das lebe, was mir guttut, sondern mich davon leiten lasse, was nach Meinung von anderen zum guten Christsein und zum guten Leben dazugehört.

Dörr: Für mich hat Glaube etwas mit Freiheit zu tun. Ich erlebe aber auch Menschen, für die der Glaube ein Zwangskostüm ist und sich und anderen nicht die Freiheit zugestehen.

Sie erleben viel menschliches Leid. Wie halten Sie Abstand dazu?

Dörr: Es gibt einzelne Fälle, die durchaus mit mir mitgehen, aber das ist keine Dauerbelastung. Als ich vor über 30 Jahren mit der Seelsorge angefangen habe, hat mich manches stärker beschäftigt. Heute ist ein Stück Professionalität dazu gekommen und ich kann besser trennen zwischen mir und dem Gesprächspartner. Eine der wichtigsten Voraussetzungen der Seelsorge ist nicht nur die Nähe und die Empathie, sondern auch die Distanzierung.

Was hilft Ihnen, schwierige Gespräche zu verarbeiten?

Hermann: Für mich war der Radweg zur Arbeit und das Laufen im Kirschenwäldchen ein guter Ausgleich. Wenn ich bei der Arbeit eine Pause brauchte, ging ich an den Schreibtisch oder auf die vertraute „Heimatstation“, in meinem Fall ist das die Palliativstation. Zum Stressabbau sind auch die vielen Treppen im Klinikum manchmal hilfreich.

Dörr: Ich atme oft erstmal durch, wenn ich vor der Tür zum Patientenzimmer stehe. Wenn ich den Eindruck habe, es bringt jetzt nichts, ins nächste Gespräch zu gehen, dann nehme ich mir die Zeit, bewusst eine Pause zu machen. Es gibt auch Tage, da gehe ich nach Hause und bin platt. Wenn wir abends keine Termine haben, koche ich zu Hause für meine Frau und mich.

Welche Patienten sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Dörr: Ein Patient lag viele Monate auf der Intensivstation und es war fraglich, wie es weitergeht. Über seine Angehörigen hatte er geäußert, dass er keine Therapiebegrenzung möchte. Er wurde also weiter behandelt. Irgendwann hat er tatsächlich die Intensivstation verlassen können. Das war schon ein besonderer Verlauf.

Hermann: Ich erinnere mich an einen Patienten, der sein Zimmer versehentlich in Brand gesetzt hatte und mit schweren Verbrennungen bei uns aufgenommen wurde. Er verlor ein Bein. Da er keine Angehörigen hatte, war nicht nur Seelsorge, sondern auch Sozialarbeit gefragt. Oder die Ehefrau eines Patienten, die ihren Mann immer zur Dialyse gebracht hat, weil er aus ihrer Sicht nicht sterben durfte. So etwas bleibt mir auch in Erinnerung.

Wie geht man als Freund oder Angehöriger am besten mit Menschen um, die sich in einer schweren Lage befinden?

Hermann: Da sein und nicht weglaufen. Zuhören. Nicht den anderen oder meine eigenen Ängste und Unsicherheiten totreden.

Dörr: Zur eigenen Hilflosigkeit stehen. Wenn Sie jemanden nach einem Trauerfall besuchen möchten, sagen Sie einfach: Ich würde dich gerne mal besuchen, weil es mir wichtig ist. Kann ich etwas für dich tun? Überlassen Sie dem anderen die Entscheidung, was ihm guttut. Wichtig kann auch die Frage sein: Hat derjenige jemanden, der ihn in den Arm nimmt, bei dem er sich anlehnen und einfach mal so sein kann, wie es ihm gerade geht? Manche hören von ihren Angehörigen nur „Ach Mama, das wird schon wieder besser“, das ist ja keine Hilfe in dem Moment.

Aus Ihrer Erfahrung und Ihren vielen Gesprächen mit kranken und sterbenden Menschen heraus: Was ist wichtig im Leben?

Dörr: Zu leben, mit Höhen und Tiefen. Das ist für mich eine Erfahrung, die ich mit den Betroffenen hier im Haus teile. Es sind Wellenbewegungen, und so lange das so bleibt, ist es für mich gut so.

Hermann: Das ganze Leben ist Bewegung.

Bitte beschreiben Sie sich gegenseitig in drei Worten.

Hermann: Zugewandt, verlässlich, fair.

Dörr: Zugewandt, mit Bodenhaftung, verlässlich.

Wie werden Sie Ihren Ruhestand verbringen?

Dörr: Mehr Zeit für meine Enkel. Ganz aufhören zu arbeiten möchte ich noch nicht. Ich bin mitverantwortlich für ein Projekt unseres Kirchenkreises, bei dem es um die Ausbildung von Ehrenamtlichen in der Seelsorge geht. Und ich hoffe, dass ich mehr Zeit zum Lesen habe.

Hermann: Ich möchte die gewonnene Zeit für Freunde und Familie nutzen. Hier und da werde ich noch Notfallseelsorge und Besuche im Tageshospiz machen. Und das Altwerden zulassen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Seelsorger Hans-Dieter Dörr und Peter Hermann